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SATIRICELLA - Schreibereien mit spitzer Feder

BRILLENERKENNTNIS

„An ihren Brillen sollt Ihr sie erkennen!“  Das war ein Satz aus der Lehrzeit, und der Optiker, Herr Linse, beachtete ihn wohl. Meist sah er schon auf den ersten Blick, ob ein zahlungskräftiger Kunde vor ihm stand oder ein armes Schwein.
Mitunter wurde es schwierig, da dreckige und kaputte Jeans selbst manchem Millionärssöhnchen als durchaus standesgemäß erschienen. Aber - siehe oben - da half der Rat des Lehrmeisters: trug der Spross des reichen Papa eine gute, also teure Brille, konnte er seine Herkunft nicht mehr verleugnen.

Man stelle sich vor, einer dieser reichen jungen Leute, die vor Langeweile nicht mehr wissen, was sie machen sollen, kommt auf einen ganz besonderen Flitz: Er geht zu einem großen Künstler und sagt: „Mach mir mal aus der Brille hier was ganz besonderes." Und der große Künstler nimmt dann das Kassenmodell, das sich der junge Kunstliebhaber organisiert hat, und setzt auf das Gestell links oben einen olivgrünen Punkt und daneben noch einen kleinen zyanblauen Strich. Dann wischt er seinen linken kleinen Finger, an dem noch etwas Magenta hängt, am Gestellteil unter dem rechten Brillenglas ab. Die Brille ist nun gut und gerne ihre zehntausend Euro wert. Aber wie soll der Optiker das erkennen? Er sieht ja auf den ersten Blick nur das Kassengestell.

Als der junge Mann mit der wertvollen Brille das Optiker-Geschäft von Herrn Linse betritt, denkt der also: „Da kommt ja wieder so ein armseliger Dreckskerl - auch noch mit dreckiger Brille." Von oben herab fragt er: „Was wollen Sie?" - es klingt wie: „Was haben Sie in meinem Geschäft zu suchen?"
Der junge Mann reicht ihm die Brille und fragt scheinheilig: „Können Sie mir die putzen?" Der Optiker ist empört, da sieht er zufällig das Innere des Brillenbügels - das Zeichen der Kassenbrille („McPenny“) ist sorgfältig weggeätzt, statt dessen prangt dort das Signum des  großen, berühmten Künstlers. Der Optiker fällt in Ohnmacht.
Dann, aus seiner Ohnmacht erwachend, geht er nahtlos in eine tiefe Verbeugung über.