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SATIRICELLA - Schreibereien mit spitzer Feder

MARATHONLAUF

Eine halbe Stunde vorm Start der Elite trat ein kleiner, unscheinbarer Mann an einen Offiziellen heran, klopfte ihm von hinten auf die Schulter. Jener drehte sich herum und herrschte ihn an: „Was suchen Sie hier! Gleich starten wir. Sie sind im Weg!“
Das Männchen erwiderte erschrocken und daher ziemlich leise: "Ich möchte auch starten. Denn ich werde gewinnen."

Die Reaktion des Organisators war nun eine Spur freundlicher: "Sie? Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne alle guten Marathonläufer. Hier dürfen nur die besten mitlaufen. Außerdem kostet es 1000 Euro Startgeld!"
Der Kleine ging trotzdem nicht. Er sagte nur: "Ich habe kein Geld und ich habe keinen Namen. Aber ich werde siegen!"
Nun wurde der andere doch wütend: "Hauen Sie endlich ab! Ich habe zu tun!"
Hartnäckig blieb der Möchtegern-Sieger stehen und forderte nun laut und für alle Umstehenden vernehmlich:  "Lassen Sie mich mitlaufen. Ich will und ich werde gewinnen!"
Da höhnte sein Gegenüber: „Gewinnen wird natürlich einer, ob Sie nun mitlaufen oder nicht!“

Er rief Männer von der Ordnungsgruppe, die den Störenfried vom Start entfernten, sehr schnell und ein ganz klein wenig grob, so dass der verhinderte Marathonläufer stolperte. Aber nun wehrte er sich wenigstens nicht mehr, stellte sich an den Rand und sah den Großen des Sports bei den letzten Vorbereitungen zu.
Nachdem diese gestartet waren, klopfte er seinem  freundlichen Gesprächspartner von eben - es war der, der  auch das Startzeichen gegeben hatte - noch einmal auf die Schulter und sagte: „Tschüs!“

Dann lief er dem Trupp, der nun bereits einen Vorsprung von 300 Metern hatte, hinterher und kam 200 Meter vor dem offiziellen Sieger durchs Ziel. 
Bei der Siegerehrung war der kleine Störenfried bereits vergessen.
Niemand vermisste ihn.

Warum ich diese Geschichte im Jahr 1998 geschrieben habe, ist schwer zu erklären. Ein wenig hat es mit der Leistungsgesellschaft zu tun und den Chancen, die der Einzelne in ihr bekommt - oder auch nicht.

PS 31.12.2019:
Diese Geschichte hat - wie ich kürzlich erfahren habe - eine sehr praktische Komponente:
Nicht jede Weltbestleistung ist ein Weltrekord, manchmal ist ein Sportler an anderer Stelle besser als ein Olympiasieger und man kann (im dritten Beispiel) als Erster durchs Ziel fahren und trotzdem nicht gewinnen:
- im ersten Fall betrifft es Trine Solberg-Hattestad aus Norwegen, deren drei Weltbestleistungen im Speerwerfen in den Jahren 1999 und 2000 nicht als Weltrekord anerkannt wurden,
- im zweiten Fall ist Uwe Hohn (DDR-Speerwerfer) im Jahr 1984 betroffen: Die DDR hatte nach dem Boykott der westlichen Welt gegenüber den Olympischen Spielen in Moskau im Jahr 1980 ihrerseits die Olympischen Spiele in Los Angeles im Jahr 1984 boykottiert.
In diesem Jahr hatte Uwe Hohn seinen sagenhaften Weltrekord von 104,80 m aufgestellt.  Nun aber musste er auf die Teilnahme an den Spielen verzichten. In einer Parallelveranstaltung der sozialistischen Länder zu den Olympischen Spielen warf Hohn mit 94,44 m  mehr als sieben Meter weiter als der Olympia-Sieger.
(Quellen: Wikipedia über "Speerwerfen" und "Uwe Hohn" - angesehen am 06.06.2019)
- im dritten Fall hat es unseren Formel-1-Rennfahrer Sebastian Vettel getroffen: Bei einem Fehler fuhr er vom Rasen wieder auf die Spur und behinderte damit Lewis Hamilton, der bremsen musste, damit es nicht zu einem Unfall kam. Es war keine Absicht von Vettel, doch nach dem Reglement erhielt er 5 Sekunden Zeitstrafe. Als erster im Ziel hatte Vettel gegenüber Hamilton dann einen berechneten Rückstand von 3,658 Sekunden und erreichte so nur den 2. Platz. Es waren also eher unglückliche Umstände, die jedem passieren können. Schließlich ist, rein physikalisch betrachtet, eine so schnelle Masse wie der Rennwagen nur noch bedingt lenkbar. Er hätte gar nicht bremsen oder lenken können, um sich "fair" zu verhalten. Anstatt froh zu sein, dass durch Hamiltons Reaktion ein schwerer Unfall vermieden wurde, rastete Vettel  jedoch aus und bestand darauf, Erster geworden zu sein.
(Quelle: MZ 11.06.2019, S. 17 - Bericht über den Grand Prix von Kanada am Pfingswochenende)