banner gfp - Nachdenken über GRUNDFRAGEN DER PHYSIK UND DER WISSENSCHAFT
DIE MATHEMATIK ALS SPRACHE DER WISSENSCHAFT

DIE ZEICHENSPRACHE DER MATHEMATIK


Mit Hilfe der mathematischen Sprache sind Erkenntnisse möglich, die im normalen Leben nicht so leicht zu gewinnen sind.
Die in der Mathematik verwendete ganz spezielle Zeichensprache hat viele Vorteile,
z. B. :
- Lange Sätze werden kurz und übersichtlich dargestellt.
- Verallgemeinerungen und Abstraktionen erleichtern die Berechnung komplizierter Aufgaben.
Doch der wichtigste Vorteil ist:
Die mathematische (Zeichen-)Sprache ermöglicht aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades das Erkennen von Zusammenhängen und das Ableiten von Schlußfolgerungen, die dann nur noch an die konkreten Bedingungen angepasst werden müssen. Natürlich hilft sie auch, Zeit zu sparen. Mathematik und (Zeit-)Ökonomie gehören auf das engste zusammen.

Die hochabstrakten, allgemeinen Erkenntnisse der Mathematik können in vielfältiger Weise auf  ganz verschiedene, konkrete, einzelne Erscheinungen angewandt werden.
Wenn ich weiß, dass zwei Birnen und zwei Birnen zusammen vier Birnen sind, weiß ich gleichzeitig, dass das auch für Äpfel, Stühle, Häuser, Autos usw. gilt:
                                      2 + 2 = 4                                          (1)
Es ist gleichgültig (gleich gültig, egal), um welche Dinge es sich dabei handelt.

Doch so trivial (gewöhnlich, naheliegend, leicht ersichtlich), wie dieser Text bis hier erscheinen möge, geht es nun nicht weiter.

Beginnen möchte ich mit einer kleinen Betrachtung
über die Bedeutung des Gleichheitszeichens
bzw. über den Bedeutungswandel dieses Zeichens:


Da ich in den ersten Jahren meiner Schulzeit noch gelernt hatte, das Gleichheitszeichen zu lesen als "daraus ergibt sich", "wird zu" bzw. einfach nur "ergibt", verwunderte mich die später übliche Lesart des "ist gleich".

Dass hinter diesem oberflächlich betrachtet kleinen Unterschied eine ganz große philosophische Grundfrage stecken würde, konnte ich als Kind noch nicht ahnen.

Zuerst sei Michael Stifel, der Mathematiker aus Luthers Zeit hier aus der Nähe Wittenbergs, noch einmal erwähnt:
In der Wikipedia über ihn kann man u. a. lesen: Als Gleichheitszeichen verwendet Stifel das lat. Wort facit oder faciunt was man mit „ergibt“ übersetzen kann.
Was für einen Unterschied macht es, ob man das Gleichheitszeichen als "ergibt" oder als "ist gleich" liest?

"Ist gleich" - das ist offensichtlich - ist statisch, "ewig gleich", unverändert, unveränderlich.
"Ergibt" - darin steckt eine zeitliche Veränderung. Das Gleichheitszeichen hatte also ursprünglich einmal die Bedeutung einer zeitliche Orientierung, der Prozess des Werdens und Vergehens, die Zukunft (dynamische Sicht ) war enthalten.

Und da sind wir schon mitten im uralten Streit der Philosophen:
Ist die Welt "ewig gleich" oder ist sie "in ständiger Veränderung", im ständigen "Werden und  Vergehen"?

Bei der Frage, was das Gleichheitszeichen nun bedeuten soll, ergeben sich also je nach Interpretation verschiedene Schlussfolgerungen.

Da wäre zunächst einmal die Frage, was der Unterschied zwischen "ist gleich" und "ist identisch" sein soll:

                                          4 ≡ 4                                (2)

wird gelesen "vier ist identisch mit vier".
Das ist unveränderlich, zeitlos.

                                     2  + 2 =  4                               (3)

erlaubt nicht das Setzen des Identitätszeichens  "≡".
Doch auch mit der Lesart "zwei plus zwei ist gleich vier" verschwindet die Zeitkomponente, der Prozesscharakter mathematischer Operationen wird ignoriert.
Es wird davon abstrahiert, dass eine "Operation", eine Handlung vorliegen muss, damit diese Gleichung gültig ist.

Nur bei der Lesart "aus zwei plus zwei ergibt sich vier" wird deutlich, dass etwas geschehen muss, damit diese Gleichung gültig ist:
Zwei Dinge und noch zwei Dinge müssen zusammengebracht werden.

Vielleicht wird das, was ich sagen will, deutlicher bei der Subtraktion:
                                         4 - 2 =  2                              (4)
Wenn ich von vier Dingen zwei wegnehme, bleiben zwei übrig.
                        Vier minus zwei ergibt zwei.
Die Gleichung beschreibt die Operation des Entfernens, des Wegnehmens.

Nun kommt mein Lieblingsbeispiel,

zu dem ich damals, im  Jahr 1997, in meiner kleinen Mathematik-Spielerei A1  eine Zeichnung angefertigt habe, nicht schön, aber anschaulich:

                   halbe Äpfel          (5)

Statisch gesehen ist mit dem "ist gleich" alles klar.
Natürlich gilt

                 1 / 2 + 1 / 2    =    2 / 2   =    1
        Ein halb plus ein halb ist gleich zwei halbe ist gleich Eins.

Schon  beim Lesen der Gleichung in einer kleinen Variation können Zweifel kommen:
       Ein Halbes plus ein Halbes ist gleich zwei Halbe ist gleich ein Ganzes.

Hier tauchen auf einmal seltsame Wörter auf: ein "Halbes" - sagt man das in der Mathematik überhaupt? Und wieso ist auf einmal die Rede von einem "Ganzen" für die "Eins"?

Nun wird es komplizierter - in der Lesart "daraus wird" bzw. "ergibt sich":
Wenn man obige Gleichung liest:
Eine Hälfte plus eine Hälfte sind zwei Hälften und die sind ein Ganzes.
oder
Eine Hälfte und die andere Hälfte sind zusammen zwei Hälften und daraus ergibt sich ein Ganzes.

Doch man weiß auch:
Aus zwei halben Äpfeln wird nie wieder ein ganzer Apfel.
Zwei Hälften können einmal ein Ganzes gewesen sein, aber sie können es nie wieder werden. Zumindest in diesem Fall der Apfelhälften.
Auf einmal muss man feststellen, dass zwar rein rechnerisch die Gleichung richtig ist, aber sie beschreibt nicht mehr das reale Leben.

Dahinter steckt eine richtig große philosophische Frage:
Kann aus zwei Teilen (wieder) ein Ganzes werden?
bzw.
Wann und wie kann aus zwei Teil-Dingen ein ganzes Ding werden?
Diese Frage kann - wie gesagt - nicht auf der Ebene der Mathematik beantwortet werden, nur auf der Ebene der praktischen Erfahrung bzw. auf philosophischer Ebene.

Wann ist es übrigens sinnvoller, "Hälfte" zu sagen, und wann ist "Halbes" richtig? Oder besteht zwischen den beiden Wörtern gar kein Unterschied?

Diese  Überlegungen gebe ich zu bedenken, wenn es darum geht, mathematische Erkenntnisse "zurück" zu übersetzen in die normale Alltagssprache.
Dann kommt man nicht umhin, die Gültigkeit mathematischer Aussagen auf ihre Richtigkeit in der realen Welt  mit außermathematischen Methoden zu überprüfen.
Das ist nicht nur der Fall bei der Berechnung von Terminen für den Weltuntergang.

Wo das Gleichheitszeichen "ist gleich" bedeutet

Jetzt wird es noch einmal spannend. Denn natürlich kann man das Gleichheitszeichen unter bestimmten Bedingungen auch als "ist gleich" lesen. Es hat sozusagen doppelte Bedeutung. In diesem Fall könnte auch das Identitätszeichen stehen:
                                                  

Wichtiger ist jedoch seine Verwendung in z. B. Definitionsgleichungen:
Geschwindigkeit (v) wird definiert als das Verhältnis von Weg und Zeit, als Quotient aus Weg (s) und Zeit (t).
Dann kann man auch sagen:
Geschwindigkeit ist gleich dem Verhältnis zwischen Raum und Zeit:

                                             v    =   s / t                    (6)

Auch andere mathematische Formeln lassen sich in dieser Weise definieren und rechtfertigen dann die Gleichsetzung, die "Gleich-Setzung" der linken und der rechten Seite des Gleichheitszeichens. Einige einfach Beispiele sollen das veranschaulichen:

• einfache quadratische Funktion
                                             y     =   x 2                      (7)

• Fläche eines Quadrats
                                            A     =   x2                      (8)

• Beispiel für die Festlegung und daraus abgeleitete Berechnung der Werte von Winkelfunktionen

                               sin 90°   =   1   

Setzt man jedoch in die Funktionsgleichung einer quadratischen Funktion (7) konkrete Werte ein, muss man wieder  "ergib" / "ergibt sich" / "wird zu" lesen:
Für x = 2 ergibt sich aus der obigen Funktionsgleichung der Wert 4 für das zugehörige y. Denn die Gleichung (7) ist eine "Rechenvorschrift", eine Handlungs-Vorschrift:
sie besagt, dass man den Wert von x mit sich selbst  ( x • x ) multiplizieren muss, um auf den y-Wert zu kommen, ihn zu berechnen.

Wenn man die mathematische Sprache anwendet, sollte man also nicht vergessen, was sie eigentlich besagt.

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Anmerkung A1
Diese mathematische Spielerei aus dem Jahr 1997 nannte ich:    
           "1 + 1 = 1? - Dumme Gedanken eines dummen Weibes
                                über die Krone der Mathematik"

Den ausführlichen Text meiner kleinen Spielerei stelle ich vor auf der Seite
                ZWEI GLEICH EINS? (in FRIDOLIN » DIE VORGESCHICHTE).
Das Beispiel mit den geteilten Äpfeln ist zu finden auf der Seite DIVIDE ET IMPERA (in FRIDOLIN » DIE VORGESCHICHTE » ZWEI GLEICH EINS?)