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MÄRCHENHAFTES

FRAU HOLLE

Das Märchen von "Frau Holle" bzw. von "Goldmarie und Pechmarie" ist das "Märchen von der Arbeit" schlechthin:
Es geht um Goldmarie, die die Arbeit sieht, die das Brot aus dem Ofen holt, damit es nicht verbrennt, und um Pechmarie, der das Brot egal ist: wenn sie es nicht bezahlt bekommt, es herauszuholen, lässt sie es eben verbrennen.
Ich glaube, eine dichtere Darstellung der Probleme, die wir gegenwärtig mit der Arbeit haben, als die in diesem Märchen gibt es nicht.

Am Anfang wird die reale Situation geschildert:
die einen sind faul, leben auf Kosten der Arbeit der anderen: Die faule Schwester und die faule Mutter lassen Marie alle Arbeit machen – und zwar, bis deren Hände bluten. Ausbeutung in ihrer totalitären Form schlechthin.
Das Problem ist aber schon hier ein zweiseitiges: nicht nur die ausgebeutete Marie ist arm dran, auch die anderen beiden sind in einer Zwangslage:  was, um Gotteswillen, machen sie  den ganzen Tag? Faulenzen, sich langweilen.
Muße – dieses schöne Wort für eine Tätigkeit, die nicht notwendig ist, die um ihrer selbst willen und um des Vergnügens willen getan wird, kennen sie nicht.
Faulheit lässt den Geist verkümmern, ihn verarmen, ist  sozusagen „Selbstmord auf Raten“.

Der natürliche Tätigkeitsdrang des Menschen wird künstlich unterdrückt.
Zwang zur Arbeit und Zwang zum Nichtstun – diese beiden Pole des heutigen Dilemmas zeigen sich auch in dem Märchen in ihrer ganzen Unmenschlichkeit.

Nun geschieht dieses: in einer ganz und gar märchenhaften, unwirklichen Situation wird Marie aufgefordert, etwas zu tun. Erst der Apfelbaum, dann der Backofen sprechen sie an, bitten um Hilfe. Sie tut es, ohne dass jemand hinter ihr steht und kontrolliert, sie tut es, ohne dass sie gesagt bekommt, wie der Lohn dieser Arbeit aussehen wird, sie tut es, weil es notwendig ist – und vermutlich tut sie es auch, weil es ihr Spaß macht.  Es ist eine schöne Tätigkeit, das wunderbar duftende Brot aus dem Ofen zu ziehen. Es wird nicht gesagt, wer es hineingeschoben hat, es wird nicht gesagt, wer es essen wird. Das ist für Marie offensichtlich gar nicht so wichtig. Da es jemand in den Ofen tat, der nun verhindert ist, es herauszuholen, tut es Marie. Sie ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Irgendwie kann ich sie mir vorstellen, wie sie das Brot  mit einem Grinsen aus dem Ofen zieht und dabei denkt: na, der Brotbäcker wird aber Augen machen, wenn er voller Sorge ankommt, denkt sein Brot ist verbrannt und dann sieht er, dass es jemand herausgezogen hat, für ihn. Er weiß gar nicht, bei  wem er sich bedanken soll. Marie freut sich über  das verdutzte Gesicht des anderen schon jetzt, noch während der Arbeit. Es ist ihr, als würde sie diesem großen Unbekannten einen Streich spielen, einen Schabernack, aber einen anderen als Max und Moritz. Sie freut sich schon  diebisch – über die Freude, die der andere empfinden wird.  Marie ist glücklich bei dieser Arbeit. Sie ist stolz, weil sie mit dem Gefühl weitergehen kann, etwas nützliches, etwas schönes, etwas freudvolles getan zu haben.

Sie dient auch Frau Holle, weil sie darum gebeten wurde, weil sie ihre Spindel wiederhaben will – und wahrscheinlich auch, weil es einfach schön ist, mit dieser klugen und gütigen Frau zusammenzuleben. Denn Frau Holle hat nun Zeit für andere Dinge, weil Marie ihr einen großen Teil ihrer Arbeit abnimmt. Diesen Zeitgewinn kann sie an Marie zurückgeben: sie kann sie vielleicht einweihen in ihr eigenen Wissen. Das verrät das Märchen nicht, aber es ist anzunehmen, dass die beiden nicht nur jeder für sich gearbeitet, sondern  dass sie auch gemeinsam gegessen, geredet und andere Dinge erlebt haben. Frau Holle ist vielleicht sehr froh, ihr großes Wissen weitergeben zu können.

Ganz anders bei der zweiten Marie. Die arbeitet nur aus einem einzigen Grund: sie will reich werden. Die Arbeit selbst ist ihr egal, Frau Holle ist ihr gleichgültig, ob das Brot verbrennt,  darüber denkt sie nicht einmal nach. Wahrscheinlich ist es für Frau Holle  auch kein Vergnügen, mit Marie zu reden, denn deren durchs Nichtstun eingerostete Gehirn hat auch alle Neugier, alles Interesse, allen Wissensdurst verloren. Diese Marie kann nicht nur nicht arbeiten, sie kann auch nicht spielen, schon gar nicht mit  und in Gedanken. Sie kann sich so auch nicht denken, dass eine Arbeit, die nicht ordentlich gemacht wird, auch ihren Lohn nicht verdient. Nicht einmal so weit reicht es bei ihr.
Diese Marie – treffen wir sie nicht heute in vielfältiger Weise wieder? Da ist der kleine Drücker, der uns ein  Zeitungsabonnement aufschwatzen will, da ist der Dieb, der einer alten Dame die Handtasche klaut, der Betrüger, der uns für viel Geld minderwertige Sachen aufschwatzen will: die nicht benötigte Versicherung, den unsinnigen Bausparvertrag, das schlecht funktionierende Küchengerät, die minderwertige Textilien oder Schuhe, die beim ersten Tragen aus dem Leim gehen.  Alles mit dem gleichen Ziel  wie  die Pech-Marie: ohne einen entsprechende Arbeit zu leisten, will da jemand ganz schnell reich werden.

Leider funktioniert es in der Wirklichkeit - noch - anders als im Märchen: die gute, aus Sorge, aus Einsicht, aus Ordnungsliebe, aus Hilfsbereitschaft verrichtete Arbeit wird oft nicht anerkannt, die ohne Entgelt verrichtete Arbeit zählt als minderwertig.  Die Arbeit um des Geldes willen ist angesehen, nach ihrem Nutzen wird dabei nicht mehr gefragt, nur noch nach dem "Profit", den sie einbringt.
Dieses Problem ist auch in der Trennung von (unbezahlter, nicht anerkannter) Haus- und Familienarbeit einerseits und Lohnarbeit zu erkennen. Eine "richtige Arbeit" ist eine bezahlte Arbeit. Alles andere ist "Hobby", minderwertig.


PS: Eine andere Sichtweise - man kann es auch so betrachten:
Frau Holle hat bei der "Arbeitserziehung" der zweiten Marie versagt. Sie hat es nicht geschafft, bei ihr das Interesse für die Arbeit und die Freude am Tätigsein zu wecken.