DIE PHYSIKERINNENTAGUNGEN 2003 UND 2007
DENKMÖGLICHKEIT FÜR EIN NEUES ATOMMODELL
Ein Lesematerial für die Physikerinnentagung 2003 in Augsburg
2. Das "andere Atom" - Beispiele aus der Geschichte
Die Vielfalt der Atom-Vorstellungen, der Atom-Modelle in der Geschichte der Philosophie und Physik ist wenig bekannt, meist werden nur die direkten Vorläufer der gerade gültigen Modelle und Theorien bekanntgemacht, die anderen meist verschwiegen. Vielleicht lohnt es sich trotzdem, einige von ihnen zu kennen, vielleicht sind sie nützlicher als es auf den ersten Blick erscheint?
Wissenschaftsfortschritt geht mitunter seltsame Wege: Viele brauchbare wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien hatten einen langen und schweren Weg vor sich, ehe sie die gesellschaftliche Anerkennung fanden, viele werden bis heute totgeschwiegen, obwohl sie nachweislich besser sind als zur Zeit gültige Lehrmeinungen.
Übersicht der ausgewählten Beispiele:
• Nikaretes "Abhandlung über die Physik und die Atome"
• asiatische Vorstellungen
• Helene Benders Kraftzentrum
• Helmholtz' Wirbel
• E. Haeckels "beseeltes" Atom
• F. Capra zitierte H. Weyl "Energieknoten"
• Einstein und die Identität von Elektron und Feld
WER entscheidet, was „richtig“ ist ?
Warum z. B. wird in Deutschland ängstlich vermieden, von Helmholtz' Wirbeltheorie als geschichtlichem Vorläufer der modernen Atommodell zu berichten, warum wird Kelvins Wirbelatom verschwiegen?
Warum halten die Engländer diese geschichtliche Erkenntnis bis heute für so erwähnenswert?
Warum werden die in der Philosophiegeschichte immer mal wieder im Zusammenhang mit dem Begriff „Wirbel“ geäußerten Kosmologien verschwiegen oder verspottet?
Wieso sind der Wirbel in der Physik und die Spirale im allgemeinen so suspekt?
In
den folgenden Notizen will ich nur eine kleine Auswahl von „Atom-Modellen“ aus der Geschichte erwähnen, nur damit nicht vergessen wird, dass es auch eine andere Sicht auf das Atom gab, als es die Siegerlinie – Rutherford / Bohr-Sommerfeld / Heisenberg und Quantenmechanik - suggeriert.
Nikaretes Abhandlung über die Physik und die Atome
(ca. 300 v. Chr.)
Die „Digitalen Bibliothek“ hat eine wunderbare CD herausgebracht:
Band 45:
Deutsche Literatur von Frauen.
Darin fand ich in einer Arbeit von einer gewissen
Meisel-Hess "Die sexuelle Krise" folgende Textstelle, die nicht nur eine "Abhandlung über die Physik und die Atome" erwähnt, sondern auch von Beziehungen zwischen Männern und Frauen berichtet, wie sie mir sehr wünschenswert auch für die Zukunft erscheinen. Deshalb sei mir das etwas längere Zitat gestattet.
"Die Hetären der Pythagoreer, Stoiker, Epikureer, Cyniker, kurz aller Philosophenschulen der griechischen Blütezeit, pflegten ihre Zeit / außer der Liebe / der Philosophie, insbesondere aber der Mathematik und Rhetorik zu widmen. »Geboren von ehrbaren Eltern, die ihr (Nikarete) eine sorgfältige Erziehung gaben, war sie leidenschaftlich eingenommen für die Probleme der Geometrie, und sie verweigerte keinem ihre Gunst, der ihr eine algebraische Gleichung löste«. Sie war die Geliebte des Stoikers Stilpon, dessen Lehre, welche Apathie und Trägheit empfahl, sie auf das heftigste bekämpfte. Philenis, die Schülerin und Mätresse Epikurs in seiner Jugend, »schrieb eine Abhandlung über die Physik und die Atome«.
Ihre Werke sowohl wie ihre Briefe sollen durch besondere Eleganz des Stils geglänzt haben. »Meine Königin,« so schrieb ihr Epikur, »welches Vergnügen empfinde ich beim Lesen deiner Briefe.« Leontium war die Geliebte seines Alters (und nicht weniger seiner Schüler). Sie wurde von ihnen allen, am meisten aber von ihm selbst vergöttert. Der Maler Theodor hat sie als »Philosophin«, d.h. »im Nachdenken« dargestellt. Besonders berühmt war sie als Polemikerin. »Ihre Schrift gegen den gelehrten Theophrast erregte die Bewunderung Ciceros.« »Aspasia lehrte die Rhetorik: die vornehmsten Bürger waren ihre Hörer und Bewunderer.« / Man nannte diese Hetären »Herrinnen der Philosophie«. Es waren dies, wie mir scheint, Frauen, bei welchen, schon durch die bloße Unterhaltung mit ihnen, den Männern das Herz aufging. Durch die »erotisch betonte« Note ihrer Geistigkeit, gerade wie durch die geistig gefärbte Nuance der Sinnlichkeit dieser Frauen wurden die Männer, mit denen sie umgingen, ihres Lebens froh. Man zog oft einen bloßen Plauderabend mit einer solchen Frau / bei Mahl, Musik und Philosophie / dem intimsten Kontakt mit irgendeiner anderen vor. Das erotische Fluid bei diesem Verkehr zwischen Mann und Weib war sogar in der geistigsten Unterhaltung in höherem Grade vorhanden, als bei sexueller Vollerfüllung mit irgendeiner wenigen starken Weiblichkeit. Dieser Kreis von Dichtern, Philosophen und hochgebildeten Hetären war in sich ein nahezu vollständig glücklicher, denn diese Männer und Frauen verstanden und genossen einander in einem Grade, wie er früher oder später in einer größeren Gruppe von Menschen kaum je wieder erreicht wurde.“
(
2007 ergänzt: Es muß nicht extra betont werden, dass Nikarete in den üblichen Darstellungen zur Geschichte der Philosophie nicht erwähnt wird.
Es wird lediglich hin und wieder darauf verwiesen, dass auch Frauen in der Schule Epikurs anwesend waren. Nun kann der Leser raten: waren sie Schülerinnen oder nur zur Unterhaltung der Schüler da. Man sage, was man will, aber eine "objektive Geschichtswiedergabe" sieht anders aus.)
asiatische Atom-Vorstellungen:
z. B.
die Dyade
Im asiatischen Raum gab es ebenfalls Atomismus-Vorstellungen, die bis ins 2. Jh. vor Chr. zurückreichen und die wesentlich philosophisch waren. Besonders interessant finde ich
die Idee der Dyaden und den Hinweis auf die Rolle der Sprache :
" ... An der Grenze zwischen physikalischen und chemischen Eigenschaften steht die Fähigkeit, Verbindungen einzugehen und sich aus Verbindungen zu lösen. Im Myaya-Vaischeshika sind beide reine physikalische Eigenschaften und bezeichnen die Entstehung und den Zerfall von Körpern durch Anlagerung von Atomen aneinander bzw. ihr Auseinanderfallen. Wesentliche Qualitäten der Atome in diesem System sind des weiteren die Ewigkeit, Unteilbarkeit, permanente Bewegtheit und die bereits erwähnte ausdehnungslose, kugelförmige Gestalt. Die Schwierigkeit des Übergangs von den ausdehnungslosen Atomen zu den ausdehnungsbehafteten Einzeldingen wurde erkannt und sollte dadurch überwunden werden, dass die Einzeldinge nicht unmittelbar durch die Aneinanderlagerung von Atomen entstehen, sondern in zwei oder mehr Stufen erfolgen sollte. Zunächst müssen und können sich nur je zwei Atome zu einer Dyade verbinden, die ihrerseits noch kein Einzelding ist. Die Atome werden als materielle Ursache für das Entstehen solcher Dyaden erklärt. Ihr Zusammenschluß wird von einer Wirkursache, genannt „adrishta“ (das Unsichtbare), bedingt. Die Dyaden bilden eine Zweiheit, wodurch sie mehr sein sollen als das Nichts, die ursprünglich einzelnen Atome. Sie sind die Ursache für die Entstehung der Einzeldinge, die aufgrund der Zusammenlagerung von wenigstens drei Dyaden, d. h. einer Triade, die die erste Vielheit darstellt, eintritt. Eine Vielheit aber, die nicht direkt aus den einzelnen Atomen, sondern aus mehreren Zweiheiten hervorgeht, stellt eine andere Größenordnung dar, der die Eigenschaft, ausdehnungsbehaftet zu sein, zuerkannt werden kann. Die Schwierigkeit des Übergangs von der Ausdehnungslosigkeit zur Ausdehnung scheint so durch einen Rückgriff auf die benutzte Sprache, das Sanskrit, bewältigt zu werden, in der zwischen dem Singular und dem Plural ein voll ausgebildeter Dual existiert. Zugleich werden durch diese Stufung zwei weitere Probleme bewältigt. Den einzelnen Atomen kommen, wie erwähnt, die Attribute Ewigkeit und permanente Bewegtheit zu. Die realen Dinge besitzen nach Ansicht des Nyaya-Vaischeshika diese Eigenschaften aber nicht. Durch eine direkte Zusammenlagerung der Atome müßten sie jedoch erhalten bleiben. Die Bildung der realen Dinge durch die Aneinanderlagerung von drei oder mehr Dyaden dagegen soll den Verlust beider Eigenschaften hervorrufen. ...
... Nach der Lehre der beiden buddhistischen Schulen sind Atome kleinste Einheiten von Kräften und Wirkungen. Die Atome repräsentieren dabei sowohl je eines der vier Elemente als auch jeweils eine
spezifische Kraft, z. b. sind die Erdatome kleinste Einheiten der Abstoßung. ..."
(Aus dem Buch: „Geschichte der Physik“ Ein Abriß, Hg. Wolfgang Schreier, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften , DDR, Berlin 1988, ISBN 3-326-00094-4; aus dem Kapitel: „Physik“ im alten China und Indien (bis etwa 1600), S. 84ff)
Das Kraftzentrum der Helene Bender, 19. Jh
Auch eine Frau aus dem 19. Jh. habe ich gefunden
(in der CD der „Digitalen Bibliothek“ – Sonderband „Die digitale Bibliothek der Philosophie“, herausgegeben im Verlag Zweitausendeins; in dem „Philosophenlexikon“ ) die ihre Vorstellungen vom Atom entwickelt hat:
Bender, Helene, geb. 1854. = B, macht den »Versuch einer Neubegründung der großen einheitlichen Weltanschauung Spinozas unter Zuhilfenahme der Atomistik und einer freien selbständigen Auffassung der Kantschen Lehren von der Idealität des Raumes und der Zeit« (gemäßigter Idealismus). Das (nicht positiv erkennbare) Ding an sich ist das Unbedingte, die Substanz im Sinne Spinozas, welche als Substrat der einzelnen Dinge, ihrer Akzidentien denknotwendig ist. Die göttliche Substanz ist »ein allen nur bedingt realen Erscheinungen gemeinsam zugrunde Liegendes, alle Dinge samt allen ihren Relationen in sich Begreifendes.« Raum und Zeit sind subjektiv, aber objektiv bedingte Anschauungsformen. Die (dynamisch gedachten) Atome sind nur relativ selbständige Kraftzentren, nicht Dinge an sich.
Das heißt, es gab auch andere als die "Korpuskelvorstellungen" für das Atom: beispielsweise die der "Kraftzentren".
Sie wurden jedoch zugunsten eines einseitigen Teilchenbildes verschwiegen, nicht weiter beachtet. Manchmal ist es aber gut, wenn solche Ideen irgendwann wieder aufgegriffen und neu auf ihre Brauchbarkeit getestet werden.
Helmholtz' Wirbel
Als nächstes bringe ich noch einen Auszug aus einer englischen Sicht
(CD Encyclopaedia Britannica 2002) auf die Geschichte der Atomvorstellungen:
“The discovery in 1858 by the German scientist and philosopher Hermann von Helmholtz of the permanence of vortex motions in perfectly inviscid fluids encouraged the invention—throughout the latter half of the 19th century
and especially in Great Britain—of models in which vortices in a structureless ether played the part otherwise assigned to atoms.
E. Haeckel und das beseelte Atom
In einem
„Wörterbuch der philosophischen Begriffe“ von einem gewissen Eisler aus den Anfängen des 20. Jh. (
CD der Digitalen Bibliothek, Sonderband „Die digitale Bibliothek der Philosophen“, Hg. vom Verlag Zweitausendeins) findet sich unter dem Suchwort
Hylozoismus folgender Eintrag, der vielleicht aus heutiger Sicht (noch) zum Schmunzeln anregt: E. HAECKEL erklärt:
»Jedes Atom besitzt eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne 'beseelt'... Lust und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Abstoßung müssen allen Massen-Atomen gemeinsam sein« (Die Perigene(s. d.) Plastid. S. 38 f.). Die »Plastidulen« (belebte Atomcomplexe) haben ein unbewußtes Gedächtnis (ib.). Masse und Äther besitzen Empfindung und Willen, sie »empfinden Lust bei Verdichtung, Unlust bei Spannung; sie streben nach der ersteren und kämpfen gegen letztere«
Vielleicht ist diese Aussage heute ohne Bedeutung, vielleicht dauert es jedoch nur noch eine Zeit, bis wir verstehen, was Haeckel mit diesem Bild sagen wollte.
F. Capras Energieknoten
Selbst in der Mitte des 20. Jh. war die Diskussion um das Atom nicht abgeschlossen:
„Nach der Feldtheorie der Materie ist ein Masseteilchen wie ein Elektron nur ein kleiner Bereich des elektrischen Feldes, in dem die Feldstärke enorm hohe Werte annimmt, so dass eine vergleichsweise sehr große Feldenergie sich in einem sehr kleinen Raum konzentriert. So ein
Energieknoten, der keineswegs klar gegen gegen das übrige Feld abgegrenzt ist, breitet sich wie eine Wasserwelle auf der Oberfläche eines Sees durch den leeren Raum aus. So etwas wie ein und dieselbe Substanz, aus der das Elektron die ganze Zeit besteht, gibt es nicht.“
(Fritjof Capra in "Das Tao der Physik" , Knaur November 1997, ISBN 3 – 426 – 77324 – 4 zitiert auf S. 211 Hermann Weyl (aus "Philosophy of Mathematics and Natural Science", Princeton Universtity Press 1949, S. 171), Capras eigene Gedanken lasse ich hier weg, ich denke, sie sind heutzutage ausreichen bekannt.)
Einstein und die Identität von Elektron und Feld
Betrachtungen über den
Substanz-Begriff und über den äußerst "kriegerischen" Streit zwischen den Atomisten und den Energetikern um die Begriffe "Materie", "Masse" und "Energie" lasse ich in diesem kurzen Material weg.
Einstein erklärte auf einem Seminar am Princeton Institut for Advanced Study 1940:
"Meiner Meinung nach ist es eine Täuschung, das Elektron und das Feld für zwei physikalisch unterschiedliche, unabhängige Gebilde zu halten. Da keines ohne das andere existieren kann, gibt es nur eine zu beschreibende Realität, die zufälligerweise zwei verschiedene Aspekte aufweist. Die Theorie müßte dies von Anfang an berücksichtigen."