banner fri - FRIDOLIN, DIE GESCHICHTE EINES ATOMMODELLS
DIE PHYSIKERINNENTAGUNGEN 2003 UND 2007
DENKMÖGLICHKEIT FÜR EIN NEUES ATOMMODELL
Ein Lesematerial für die Physikerinnentagung 2003 in  Augsburg

1. Denkmöglichkeiten


1.1.   Die beiden Denkmethoden, das "lineare" und
          das "komplexe" Denken

1.2.   Das Denken in Wort und Bild
1.3.   Die Gefahren der Abstraktion 

1.1. Die beiden Denkmethoden*,
das "lineara" und das "komplexe" Denken"

* Wenn es sinnvoll ist, kann die Unterscheidung beider Denkmethoden auch mit anderen Begriffen deutlich gemacht werden, ich denke, das ist nicht die wichtigste Frage.

Diese Bezeichnung der beiden Denkmethoden als "lineares" und „komplexes“ Denken habe ich ziemlich willkürlich gewählt, als Erinnerung an das erste Merkmal, das ich herausfand.

Es begann mit dem Strahlenmodell des Lichtes. Es ist ein lineares, eindimensionales Bild bzw. Modell vom Licht. Demgegenüber ist das Bild bzw. Modell der Kugelwelle mehrdimensional, komplexer.
Ich fragte meinen Sohn, damals ca. 9 Jahre alt, wie er sich einen Strahl vorstelle. Er machte die Pinkelgeste.
Diese Analogie verblüffte mich, weil ich als Frau nie darauf gekommen wäre!
Damals dachte ich noch, eine Unterscheidung nach "männlichem" und "weiblichem" Denken wäre am markantesten, doch dann merkte ich, dass es nicht ganz so einfach ist mit
den Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Denken von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen.

Allerdings blieb auch später die Frage offen: Sollte diese ausgeprägte Vorliebe für das Strahlenmodell des Lichtes mit der Spezifik männlichen Urinierens zusammenhängen
?

Einige der bekanntesten Unterscheidungsmerkmale beider Denkmethoden,

die in der wissenschaftlichen Arbeit besonders von Bedeutung sind, will ich hier gegenüberstellen. Wie sehr sich diese Methoden in den Inhalten der Theorien widerspiegeln, will ich in an dieser Stelle nicht ausführen. In Abschnitt 4 wird es an der einen oder anderen Stelle sichtbar.

das "lineare" Denken
  das "komplexe" Denken
eindimensional, polarisiert
  mehrdimensional, vernetzt
abstrakt
  konkret, anschaulich, symbolisch
analytisches Denken
  Synthese-Denken
quantitativ
  qualitativ
mechanisch, lebensfeindlich
  organisch, lebendig
Diskontinuität, Teilchenbild
  Kontinuität, Wellebild
statisch
  dynamisch
Denken in Worten
  Denken in Bildern
formal-logisch
  komplex-analogisch
autoritär, hierarchisch
  gleichberechtigt, harmonisch


Beim Vergleich der beiden Denkmethoden erkannte ich:

• Natürlich sind beide Methoden nicht "in Reinkultur" bei einem Menschen vertreten, im allgemeinen treten "Mischformen" auf.
Die Fähigkeit, beide Denkformen zu erkennen, zu unterscheiden und beide nach Bedarf benutzen zu können, schafft Erkenntnis- und damit Wissensvorteile.

• Diese beiden Denkmethoden sind schwer am Geschlecht des Denkenden festzumachen, deshalb gewöhnte ich es mir schnell ab, von der "männlichen" und "weiblichen" Denkmethode zu sprechen.

• Eine viel wichtigere Erkenntnis war, dass in der gegenwärtigen Wissenschaft und im Schulunterricht fast ausschließlich die eine Denkmethode, die lineare, praktiziert wird.

• Verfolge ich die Spuren der anderen, "vergessenen" Denkmethode in der Geschichte zurück, so konnte ich sie sehr wohl bei vielen Männern antreffen. Allerdings zeigte sich, dass die Ergebnisse, die aus dieser Methode resultierten, ebenfalls meist genauso "vergessen" wurden wie die Methode. Da mir wissenschaftliche Erkenntnisse von Frauen aus der Geschichte noch zu wenig zur Verfügung standen, konnte ich die dabei verwendeten Denk-Methoden noch nicht untersuchen, vermute jedoch, daß auch von Frauen beide Methoden angewandt wurden.

• Es gibt bereits moderne Literatur und andere Formen der Darstellung, die sich wieder mit dieser "vergessenen" Methode beschäftigen. Dabei werden oft Fragen nach den unterschiedlichen Fähigkeiten des Gehirns, die am Bild der rechten und linken Gehirnhälfte "festgemacht werden"*, einbezogen.
____________
* Diese Bemerkung bezieht sich auf das Buch:
Frances A. Yates:
"Gedächtnis und Erinnern - Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare"
VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1990, (65 Mark),
Übersetzung aus dem Englischen, Originaltitel „The Art of Memory“ - London 1966

Im folgenden möchte ich einige Beispiele zur Veranschaulichung bringen, eine ausführliche Darstellung dieser Fragen erfolgt in einer späteren Arbeit.

1.2. Das Denken in Wort und Bild

Als "gelernte DDR-Bürgerin" konnte ich aus eigenem Erleben erkennen, dass es in der Anwendung der beiden Denkmethoden in beiden deutschen Staaten offensichtlich weniger Unterschiede gibt als ich angenommen hätte.
Ich lernte in der Schule, daß sich das Denken des Menschen "in Worten" vollzieht. Obwohl ich diesem Satz, als ich ihn hörte, zustimmte, hakte sich irgendetwas in mir fest und ich musste später noch oft daran denken. Denn inzwischen hatte ich mit dem Denken meine eigenen Erfahrungen gemacht, die mit diesem Satz nicht so recht zusammenpassen wollten. Entweder "dachte ich falsch" – oder der Satz stimmte nicht (ganz).
Aufklärung brachte mir ein Buch (s. o. Yates: "Gedächtnis und Erinnern - ... " ), das ich im Jahr 1997 las, ein Buch über die Gedächtniskunst in der Geschichte der Menschheit. Das Buch liest sich schwer, es ist auf hoher Abstraktionsstufe geschrieben und für Menschen gedacht, die schon sehr viel Erfahrung mit geistiger Arbeit haben, so dass sie das, was Yates da beschreibt, durch das Vergleichen mit den Erfahrungen, die sie beim eigenen Denkens und Lernens gesammelt haben, verstehen können.
Eine der wichtigsten Methoden, sich Wissen einzuprägen, war nach Yates, dass man die Fakten an "Gedächtnisbildern" anknüpfte bzw. Wissen ganz und gar als Bild speicherte ("Ein Bild sagt mehr als tausend Worte"). Yates meint, daß man die Kunstwerke des Mittelalters unter diesem Aspekt (Bilder als Hilfsmittel für das Gedächtnis, das Denken) ganz anders sehen kann, vielleicht sind sie "weniger die Offenbarung einer gequälten Psyche" als vielleicht eine Art Lehrmaterial.
Waren die Maler wie Goya, Bosch usw. doch nicht so "verrückt" wie es uns heute manchmal erscheint?

Mit dem Aufkommen der Buchdruckkunst war der »Sieg des Wortes über das Bild« erreicht. In dieser Zeit, so Yates, zeigte sich die »beginnende Verachtung für Metapher und Poesie« – weil sie zur »niederen, imaginativen Ebene« gehören“ und es erfolgte eine »Hingabe an das Rationale, Abstrakte«.

Da ich in der Lutherstadt Wittenberg lebe, sei mir eine konkret-historische Ergänzung gestattet: Philipp Melanchthon war in seiner Zeit berühmter als Luther, er galt als „Lehrer Deutschlands“, hatte wesentlichen Anteil am Ruhm der Wittenberger Universität. Aber auch er verfiel, wie viele seiner Zeit dem, was sich im Volk dann als "Bildersturm" verkörperte: nicht dass er Bilder verbrannt hätte, jedoch bekämpfte er die bildhafte Form des Erkennens und hatte sich ebenfalls dem abstrakten Wort verschrieben. Er - so Yates - schrieb Auswendiglernen vor, lehnte mnemotechnische Kunstgriffe ab.

Giordano Bruno, der 1588 kurze Zeit an der Wittenberger Universität lehrte, wurde bekannterweise im Jahr 1600 verbrannt. Yates nun beschäftigt sich sehr ausführlich mit G. Bruno und dessen Gedächtnismethode. Mir erschien es beim Lesen des Buches sogar so, als wäre G. Bruno nicht so sehr wegen seiner ketzerischen Lehr-Inhalte als vielmehr wegen seiner gefährlichen Denk-Methode verbrannt worden.

Die Namen Camillo, Robert Fludd und Pietro de Mirandola sind heute fast unbekannt. Von Camillo und Mirandola* sagt Yates: Camillo und Pico bewegten sich [durch das Wissen ihrer Zeit] als hätten sie den "Hauptschlüssel" dazu gefunden, "mit solch einer Sicherheit".

* der in der 2. Hälfte des 15. Jh. lebte und vermutlich vergiftet wurde – wie man in Rosemarie Schuders historisch gut recherchiertem Roman „Paracelsus und der Garten der Lüste“ erfährt.

Was es mit „Camillos Gedächtnistheater“ auf sich hat, kann ich hier in der Kürze gar nicht schildern. Ein Zitat aus Yates Buch macht vielleicht neugierig:
"Die wechselnde Bedeutung eines Bildes in verschiedenen Rängen ohne Verlust seines Grundthemas ist eine sorgfältig durchdachte Eigenschaft der Bilderwelt des Theaters."Mich bewegt seitdem ein Gedanke: wenn das moderne mathematisch-physikalische Wissen in einem solchen "Gedächtnistheater" dargestellt würde, mit welcher Freude könnten die Kinder lernen!

Zusammengefaßt:
Mit dem Ausgang des Mittelalters, dem Beginn der Neuzeit, der Buchdruckkunst (und durch diverse sonstige Interessen gefördert) wurde die alte bildhafte, konkrete, anschauliche Bilder-Gedächtniskunst zurückgedrängt, teilweise unter physischer Vernichtung ihrer Hauptvertreter.

Nun begann der Siegeszug des unanschaulich-abstrakten, nur noch in Worten ausdrückbaren Denkens. Waren vorher Wort und Bild noch "eins" , setzte nun die Polarisierung bzw. Einseitigkeit zugunsten des Wortes mit all den schlimmen Folgen an Gedächtnisverlust für die "zivilisierte Welt" ein.
Welche "sonstigen Interessen" es waren, die dieses einseitig-abstrakte Denken gefördert haben könnten, auch dazu habe ich interessante Gedanken gefunden, die ich im folgenden Abschnitt vorstelle. Es geht um die Verbindung von Abstraktion, Autorität und Macht und um die verhängnisvolle Rolle der Wissenschaft dabei.

Vielleicht ist es die Aufgabe unserer Zeit, dem bildhaften, vorstellungsfähigen Wissen und Denken wieder zur Anerkennung zu verhelfen. Ich denke, dabei kann auch mein anschauliches Atommodell einen kleinen Beitrag leisten.

1.3. Die Gefahren der Abstraktion

Sowohl bei der wissenschaftlichen Abstraktion als auch bei der Quantifizierung des Wissens spielt die Mathematik eine Hauptrolle*. Zählend, messend, in Formeln sich kleidend, "quantifizierend" (!) hat die Physik zunehmend die Betrachtung der qualitativen Phänomene sowie die anschauliche, konkrete Darstellung ihrer Ergebnisse außer acht gelassen.
    Die Abstraktionen der Wissenschaft können heute in der Bevölkerung – vor allem im Schulbildungsbereich – kaum noch nachvollzogen werden. Das zeigt sich z. B. daran, dass SchülerInnen oft nicht verstehen, was sie lernen (sollen). Sie lernen das Unverstandene auswendig, stopfen sich mit leeren Worthülsen voll, reproduzieren möglichst wortgenau das vom Lehrer verlangte Wissen. Selbst zu denken, wird kaum verlangt.
_________________
* Ausführlichere Gedanken hierzu habe ich in meiner Mathematik-Arbeit formuliert.
Sie entstand im Jahr 1997 unter dem Titel „Eins plus eins gleich eins?
Dumme Gedanken eines dummen Weibes über die Krone der Wissenschaft, die Mathematik
A

Wie die Gefahren, die von dieser Abstraktion und „Ver-Mathematisierung“ ausgehen, bereits erkannt werden, will ich anhand einiger Zitate zeigen:

Joel Kramer & Diana Alstad:
Die Guru Papers - Masken der Macht
1. Auflage , April 1995, Zweitausendeins, S. 18
Aus dem Vorwort - Bemerkungen zum 6. Kapitel:
Die Macht der Abstraktion: Das Heilige Wort und die Evolution der Moral

" .... wollen wir zeigen, wie aus gedanklichen Konzepten Herrschaftsmechanismen werden. Jede Weltanschauung ist durch eine nur ihr eigene, einzigartige Abstraktion definiert. ... Welche Kraft von naturwissenschaftlichen Abstraktionen ausgeht, ist offensichtlich. ..."
Gisela Graichen
Die neuen Hexen - Gespräche mit Hexen
Vollständige Taschenbuchausgabe 1989, Knaur Nachf. München, S. 314:

"Uns ist bewußt geworden, dass das männliche abstrakte Denken sich so weit von der Natur entfernt hat, dass wir kurz vor einer Katastrophe stehen, wenn wir nicht das weibliche, naturbeinhaltende Sein als ganz wichtige Ergänzung dazunehmen."
Brigitte Muth
Mathematik - Eine Einführung
Orbis - Verlag, Sonderausgabe 1990
Verlagsgruppe Bertesmann GmbH, Gütersloh 1983, 1990
aus dem Vorwort

"Mit wirtschaftlichen Kalkulationen, Hochrechnungen und Statistiken gewappnet, beeinflussen in zunehmendem Maß Fachleute die Entscheidungen in Wirtschaft und Politik; ihre mathematische Sprache wird dabei oft zum Zaubermittel, das Einwände des mündigen Bürgers rasch verstummen lässt."
Ein "wissenschaftliches Experiment" möchte ich vorstellen, das die Gefahren des heutigen wissenschaftlichen Denkens und der heutigen Wissenschaftsgläubigkeit in einer Weise gezeigt hat, die beängstigend ist.

In dem Buch von Stanley Milgram "Das Milgram-Experiment" (Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment, Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbeck 1982, 12. Auflage Oktober 2001, ISBN 3 499 17479 - 01) beschreibt er seine Experimente aus den 60er Jahren über die Gehorsamkeit von Menschen Autoritäten gegenüber: Die Versuchspersonen mussten den Anweisungen einer autorisierten Person, des Experimentators folgen, und einen "Schüler" mit elektrischen Stromstößen wachsender Stärke "bestrafen", wenn dieser "Fehler" machte. Die Stromstöße waren nur vorgetäuscht, der Schüler spielte die Schmerzen nur.
Auf der Rückseite des Taschenbuches heißt es:

"Drei Viertel der Durchschnittsbevölkerung können durch eine pseudo-wissenschaftliche Autorität dazu gebracht werden, in bedingungslosem Gehorsam einen ihnen völlig unbekannten, unschuldigen Menschen zu quälen, zu foltern, ja zu liquidieren."
Inzwischen erhebt die Wissenschaft im öffentlichen Leben einen Autoritätsanspruch, dem der normale Mensch nicht gewachsen ist. Es scheint, als wären die außerwissenschaftlichen Interessen in diesem Prozeß, im Machtbereich von Politik und Wirtschaft zu suchen – und es scheint, als ginge es hier dann doch wieder um die Frage nach dem Geschlecht, um den Platz der Wissenschaft als Teil der Macht- und Gewaltmittel patriarchaler Strukturen*.
__________
* siehe Anhang: Frauenwissen - die Literatur der Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth

Diese wenigen Beispiele lassen bereits erkennen, dass es dringend erforderlich ist, öffentlich darüber nachzudenken, welchen Platz die Wissenschaft heute in der Gesellschaft hat und welchen sie in Zukunft einnehmen soll, wie die weitere Wissenschaftsentwicklung verlaufen soll:
 Soll sie sich zunehmend als bedrohliches Herrschaftsinstrument weniger über andere entwickeln oder soll sie ein wunderbares, vergnügliches Hilfsmittel für alle beim Denken und Erkennen, bei der Erleichterung unseres Alltags sein?

Diese Frage geht meiner Meinung nach über das Anliegen der "feministischen Wissenschaftskritik" hinaus. Denn es wird offensichtlich, dass die Gefahr, die von der heutigen einseitigen "Verwissenschaftlichung" ausgeht, sowohl für Frauen als auch für Männer existiert – und dass diese Gefahr nicht von Frauen allein abgewendet werden kann.

Meiner Meinung nach besteht die einzige Möglichkeit, den Autoritätsanspruch der Wissenschaft zu überwinden, darin, die Menschen zum selbständigen Denken zu befähigen.

Es geht also letztlich heute um die gleiche Frage wie vor 400 Jahren, am Beginn des "wissenschaftlichen Zeitalters" (siehe G. Bruno):

WIE denken wir?

Sind wir z. B. in der Lage, "Neues zu denken, neues Denken zu lernen?"
Im Abschnitt 3 lade ich Sie ein zu einem Versuch, zu einem Gedankenexperiment, "Neues zu denken". Folgen Sie mir?
________________________________
Anmerkung am 04.11.2025
Diese Arbeit aus dem Jahr 1997 kann man inzwischen nachlesen unter
ZWEI GLEICH EINS? (hier im Thema FRIDOLIN » DIE VORGESCHICHTE)