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QUERDENKER (FRÜHER AUCH KETZER GENANNT) IN WITTENBERG

ÜBER QUERDENKER

Prolog

Jetzt, am 31.12.2022, ist dieser folgende Text natürlich etwas brenzlich.
Will ich hier für die aktuell als "Querdenker" bezeichneten Menschen eine Lanze brechen, gehöre ich womöglich zu ihnen?
Sind diese überhaupt "Querdenker", wie ich sie im folgenden Text beschreibe?
Bitte urteilen Sie selbst.
Hier kommt der Text, wie ich ihn im Jahr 2016 - völlig naiv und eher etwas heiter-spöttisch - ins Netz gestellt habe. Lediglich das Wort "Unruhestifter" wurde ergänzt, einige Formatierungen wurden geändert und Schreibfehler korrigiert:

"Höre nie auf, quer zu denken!" wurden die Wittenberger vor Jahren aufgefordert. Damals begann ich, über das Wort "Querdenker" nachzudenken.

Irgendwie kam ich mit dem Spruch nicht klar:
Wenn ich aufgefordert werde, mit dem Querdenken nicht aufzuhören, dann muss ich doch schon damit angefangen haben? Haben wir überhaupt Querdenker hier in Wittenberg, so dass der Appell an sie wichtig ist?
Eigentlich - so war und ist mein Eindruck - gibt es von dieser Sorte Menschen hier noch zu wenige. Die meisten haben noch nicht einmal mit dem Querdenken begonnen!

Ja, so wird es gemeint sein: ein klein wenig scherzhaft, genau diesen Gedanken provozierend:
Wir haben ja noch gar nicht "genug" Querdenker, an die man appellieren könnte, weiter zu machen.
Man müsste erst einmal die Menschen bewegen, mit dem Querdenken zu beginnen!
"Fang endlich an, quer zu denken!" ist aber zu geradlinig gedacht, nicht "verquer" genug!
Der war echt clever, der sich das ausgedacht hat.

    • Die Kampagne (These 96): "Höre nie auf, quer zu denken!"
    • Ein Fall von Querdenkerei in Wittenberg - Querdenker wollen
      das Natur- und Völkerkundemuseum "Julius Riemer" retten
    • Eine kleine Sprachbetrachtung rund um den Querdenker

Die Kampagne (These 96):
"Höre nie auf, quer zu denken!"

Im Jahr 2008 startete in Sachsen-Anhalt ein Wettbewerb zur Imagepflege. Die Aktion "Wir stehen früher auf" sollte noch etwas ergänzt werden. 
Es ging um "Erfolgsgeschichten - made in Sachsen-Anhalt".


So wurden in verschiedenen Orten neue "Thesen" aufgehängt.
In Wittenberg war es die "These 96":"Höre nie auf, quer zu denken." In dem auf dem Foto nicht mehr lesbaren Text unter dieser These steht:
"Sachsen-Anhalt ist seit 1517 weltberühmt - für seinen klugen Köpfe."
Die Werbung hing eine Weile vom Turm der Schlosskirche und vom Hauptgebäude der Wittenberger Sparkasse herab (pardon, dort hing die These "quer", s. u.), dann verschwand sie und mit ihr auch ganz schnell die Erinnerung daran.  

Wir sind eine anständige Stadt, Querdenker geraten schnell in den Ruf, Nestbeschmutzer zu sein.
             Höre nie auf quer zu denken
(Quelle der Abbildung: die offizielle Seite des Landes Sachsen-Anhalt damals.)

Ei doch, das Foto (Deskprint von der eben genannten Website) von den Querdenkern an der Sparkasse kann ich mir nicht verkneifen, bitteschön:
Querdenker Sparkasse

Und nun schaun wir mal, was sich in Wittenberg an Querdenkern  oder Querulanten auftreiben lässt und wie man mit denen umspringt.
Danach folgt eine kleine Sprachbetrachtung rund um den "Querdenker":

Ein Fall von Querdenkerei in Wittenberg
Querdenker wollen das Natur- und Völkerkundemuseum "Julius Riemer" retten

Was allerdings mit realen "Querdenkern" geschieht hier in Wittenberg, davon kann ich ein Lied singen: Ich bin einer von den "Querdenkern", die versuchen, das Natur- und Völkerkundemuseum "Julius Riemer" zu retten.

Im März des Jahres 2012 habe ich mich der damaligen Bürgerinitiative zur Rettung des Museums angeschlossen. Inzwischen ist daraus ein Verein hervorgegangen. Seine Aktivitäten kann man nachlesen unter
www.riemer-museum.de »externer Link«

Die Anfänge waren äußerst schwierig. Wo immer es möglich war, wurde gegen die Bürgerinitiative vorgegangen. "Angriffe auf die Stadt" habe es gegeben, wurde uns unterstellt, reinstes Querulantentum also. Diese verbale "Angriffe" bestanden im Protest gegen die Schließung des Museums im Jahr 2011 und gegen den Bruch des Vertrages mit Charlotte Riemer, der Erbin der Riemerschen Sammlung und Direktorin des im Wittenberger Schloss seit 1947 beheimateten Museums.

Der damalige Oberbürgermeister, Herr E. N., erklärte im Jahr 2014 dem Verein gegenüber schriftlich, dass es "nie wieder ein Natur- und Völkerkundemuseum" in Wittenberg geben würde.
Ein "Querdenker" war dieser OB natürlich nicht. Und ob er das letzte Wort in der Museumsfrage gesprochen hat, ist auch noch nicht entschieden. Im Jahr 2015 bekam Wittenberg einen neuen OB,  der alte wurde nach 25 Jahren einer geradezu herausragenden Mittelmäßigkeit und Kreativitätslosigkeit in Ehren aus dem Amt in die Rente entlassen.

Eines tröstet mich:
In 500 Jahren wird niemand mehr wissen, wer dieser "OB E. N." war, anders als beim Querdenker Luther.
Und vielleicht hat die Stadt dann ein Museum, dass seinen 495. Jahrestag feiern kann und immer noch den Namen "Julius Riemer" trägt.

Querdenker sind sehr, sehr hartnäckig, wenn sie glauben, sich für eine richtige, wichtige, gerechte Sache einzusetzen, erst recht, wenn sie auf Widerstand stoßen.
Wenn man mit dem Querdenken erst einmal angefangen hat, kann man von allein so schnell nicht mehr damit aufhören, da benötigt man keine aufmunternden Spruchbänder mehr.
Drum hat man ja früher diese Querdenker nicht so gern leben lassen, man wusste genau: Diese Plage werden wir nicht wieder los.


Sind Querdenker nötig? Wem kommen sie "in die Quere"?
Könnte es sein, dass das was mit "denen da OBEN" zu tun hat, die in Selbstherrlichkeit (wie in alten Feudaladelszeiten) "von oben herab" regieren wollen, ohne durch das Volk gestört zu werden?

Eine kleine Sprachbetrachtungen rund um den Querdenker

Ketzer, Querulaten, Aufsässige, ...

Ketzer -  den hatten wir schon oben

Querulanten - und dazu gehören deren "querulierenden Motive" (siehe UNERSCHROCKENES WORT) - denken und reden zwar auch "gegen die Norm", sind dabei aber meist nicht intelligent genug und/oder stellen sich mehr in den Mittelpunkt als die Sache, für die sie sich einsetzen.  Was sie machen, könnte man eher als "quengeln" bezeichnen, allgemeines Genörgle, ohne jedoch auch konstruktive Lösungsvorschläge zu unterbreiten, wie es dem "Querdenker aus Ehre" notwendig erscheint.

Eine Zeitlang gab es das Wort vom "Widerstandskämpfer". Es wird eher selten verwendet, ist ebenfalls etwas in Verruf geraten. Die Kommunisten hatten es "annektiert".

Der "Unruhestifter" darf nicht vergessen werden. Er hält sich im Hintergrund, stachelt andere auf und freut sich, wenn diese Leute dann Ärger machen.

Auch die "Aufsässigen" gehören in diese Gruppe der Quer- und Anders-Denker. Bei denen kommt zum Denken aber noch eine gehörige Portion praktischen Handelns hinzu. Das schlägt schnell ins Radikale um und nutzt der Gesellschaft gar nicht, schadet eher dem Anliegen, das sie dabei vertreten.

In den Begriffen "Aufsässiger" und "Querulant" steckt eine gegenüber dem Querdenker noch einmal wesentlich negativere Wertung. Gern werden diese Worte genommen, um die eigentlichen Querdenker herabzuwürdigen und wenn möglich zum Schweigen zu bringen.

Der Freigeist und der Querdenker

Der "Freigeist" gehört im weitesten Sinne auch zu den Querdenkern, andererseits umfasst er eine größere Gruppe von freien Denkern als die Gruppe der Querdenker. Während man dem Querdenker durchaus ein bewusstes und vorsätzliches "quer Denken" gegenüber gesellschaftlichem Normdenken unterstellen kann, pfeift der Freigeist in seinem Denken gänzlich auf einen Bezug zu den Normen: er hat auch die Freiheit, "in den Normen zu denken", wenn er sie für gut und richtig hält. Er kennt sie und genießt es vielleicht auch, wenn er ein bisschen "quer liegt". Aber das ist ihm eigentlich zweitrangig. Er spielt mit Gedanken, lässt ihnen freien Lauf, legt ihnen keine Zügel an, hat sie aber dennoch in gewisser Weise unter Kontrolle: auch der Freigeist kennt eine Disziplin des Denkens und Sprechens: wo Wahrheit, Sachlichkeit, die Suche nach neuer Erkenntnis und die Freude am Denken verloren gehen, da "denkt er nicht mit". Der echte Freigeist ist ein "ästhetisch Denkender", dem es auch auf die Schönheit der Gedanken und Gespräche ankommt.

Der eigentliche Querdenker ist also sehr normenbezüglich in seiner Kritik und damit im eigentlichen Sinne des Wortes nicht wirklich "frei" im Denken, der Freigeist ist es.
Unter "Freigeist" versteht  man heute jemanden,
"der sein Denken von den verzerrenden Einflüssen seiner Umwelt befreit hat."
Ursprünglich war "Freigeist" übrigens eine "vor allem im Deutschland des 18. Jahrhunderts verbreitete und seinerzeit eher abwertende Bezeichnung für einen Menschen, der unabhängig von gesellschaftlich etablierter Religion denkt und handelt."
(Quelle dieser beiden Zitate: Melioration (Linguistik) »externer Link« in der Wikipedia, Stand 13.10.2016)

Was ist das "Gegenstück" zum Querdenker?

Richtig: der Arschkriecher.
Der in vorauseilendem Gehorsam der Obrigkeit (denen da OBEN, die das SAGEN und das TUN, die MACHT haben) alles zu Willen tut.

Kennen Sie den?
Treffen sich zwei Kollegen im Magen ihres Vorgesetzten.
Sagt der eine: "Was, hat dich der Chef auch gefressen?"
Sagt der andere: "Nö, ich komme von der anderen Seite."


Nein, das Wort "Arschkriecher" ist nicht auf der gleichen Begriffsebene wie der Begriff des Querdenkers - das offizielle Gegenstück zum Querdenker ist der "Status-Quo-Denker", auch als "Schubladendenker" bezeichnet. Auch Engstirnigkeit und Schwarz-Weiß-Malerei gehört in diese Katergorie der Nicht-Querdenkerei.
Der Unterschied zwischen beiden Denktypen ist, dass der eine dynamisch, flexibel denken kann, während der andere für seine geistige Sicherheit feste Normen des Denkens, feste Denkinhalte benötigt. Ihn zeichnet geradezu die Angst vor neuen bzw. fremden Gedanken aus. Wer anders denkt als die Masse, gehört folglich einer Minderheit an. Und Minderheiten haben keine Macht. Ihnen fehlt es an genügender Zustimmung und Konformität. Doch weit gefehlt: Querdenker sind nicht nur außergewöhnliche Denkertypen - ohne Menschen wie diese gäbe es keinen Fortschritt. Sie bringen frischen Wind, sorgen für Neuerungen und Veränderungen. Damit sind sie für Unternehmen ein wertvolles Gut - wenn diese sie zu schätzen wissen. (gefunden auf karrierebibel.de/querdenker »externer Link« am 19.04.2016 - auf dieser Website gibt es übrigens noch viele weitere interessante Anregungen, über das Querdenken nachzudenken)

Wiktionary definiert Querdenker als:
"Person, die sich in ihrem Denken nicht an die üblichen Denkweisen hält."
Leider ist das zu weit gefasst, denn zu dem "nicht an die übliche Denkweise-Halten" muss eine gesunde Portion Kreativität und kluger alternativer Gedanken kommen, ansonsten verkommt der Andersdenker nur zum Querulanten, zum Trotzköpfchen, zum manipulierbaren Objekt böser Mitmenschen.
Hübsch an dem Beitrag  ist übrigens der Hinweis auf die Querdenkerin.

Natürlich ergibt sich aus dieser Erklärung auch die Frage, was die "übliche Denkweise" ist, wer sie bestimmt, beeinflusst, ggf. sogar manipuliert.

Da das Querdenken also nicht die Norm ist, nicht von der Mehrheit praktiziert wird, fallen Querdenker auf.
Auch das ist eine Gefahr, das Querdenken in Verruf zu bringen: wenn jemand nur um aufzufallen, die dümmsten Gedanken produziert, die von der Norm abweichen:

Die notorischen Nörgler und Volksverhetzer

Wenn heutzutage zahlreiche Leute glauben, mit Gebrüll, mit Parolen und bösen Worten andere Menschen aufstacheln und aufhetzen zu können, hat auch das nichts mit der Denkweise eines echten Querdenkers oder Freigeistes zu tun. Denn sie verwenden eine "böse", eine ganz schlimme Sprache, die letztlich ihnen selbst und den Zuhörern weh tut, auch wenn viele das nicht bewusst wahrnehmen.
Ich würde sie weder zu den Querdenkern noch zu den Freigeistern zählen, sondern eher "notorische Nörgler" und "Volksverhetzer" nennen.

Der Weg zum Querdenker

Der Weg zum Querdenker geht gerade andersherum: zuerst ist da ein neuer Gedanke, den man für wichtig hält, den man anderen nahebringen möchte. 
Dann merkt man auf einmal, dass dieser Gedanke bei den anderen kein Gehör findet.
Dann wundert man sich darüber, dann entscheidet man sich: ist der Gedanke wichtig genug, um sich für ihn in der Öffentlichkeit einzusetzen, oder halte ich in Zukunft meine Klappe?
Erst wenn man den Gedanken für wichtig hält, wird man zum Querdenker in dieser einen Sache.
Denn es ist ja nicht so, dass Querdenker zu allen normalen Denkweisen verquer denken.
Allerdings, ein gewisser Suchtfaktor mag dazu führen, dass man, wenn man einmal mit diesem Querdenken angefangen hat, es nicht mehr lassen kann:
Auch in diesem Sinne ist übrigens die "These 96" unnötig, die da meint
"Höre nicht auf, quer zu denken!"

Querdenken wird gern auch als "Um-die-Ecke-Denken" bezeichnet.

Querdenker in der Geschichte

Sie zeigen, was gemeint ist: Kopernikus und Galilei dachten "andersherum", quer: nicht die Sonne kreist um die Erde, sondern die Erde um die Sonne.
Vielleicht sind also die quer gedachten Gedanken von heute die üblichen Denkweisen von morgen?